Die KI-Agentenökonomie kommt: Differenzierung, Sichtbarkeit, Gestaltungsfreiheit sichern

Lange wurde KI in Unternehmen vor allem als ein weiteres. neues Werkzeug gesehen: zur Analyse, zur Prognose, zur Effizienzsteigerung. Doch mit Agentic AI – also Systemen, die nicht nur reagieren, sondern eigenständig planen, entscheiden und handeln können – betritt eine neue, deutlich wirkmächtigere Kategorie die Bühne. Diese Entwicklung betrifft nicht nur die IT-Abteilung oder ein Innovationsteam, sondern stellt Unternehmen in ihrer Gesamtheit vor grundlegende Fragen:

  • Wie gehen Unternehmen mit KI-Agenten um, die als Kund*innen auftreten, Preise vergleichen, Warenkörbe zusammenstellen?

  • Welche Prozesse können durch interne Agenten neu gedacht werden? Sei es im Kundenservice, im Einkauf oder in der Personalentwicklung.

  • Und vor allem: Wie behalten Unternehmen Kontrolle und Differenzierung, wenn Transparenz zur Voraussetzung für Sichtbarkeit und Teilhabe wird?

Diese Fragen sind nicht akademisch. Die technologischen Bausteine existieren bereits. Erste Standards entstehen, darunter das Model Context Protocol (MCP) oder das Agent-to-Agent (A2A)-Protokoll. Die Anwendungsfälle nehmen rasant zu, und der „Tipping Point”, ab dem solche Systeme im Alltag von Kund*innen und Mitarbeitenden zur Norm werden, rückt näher. Jetzt ist der Moment, sich strategisch, technologisch und kulturell vorzubereiten.

 

Was ist Agentic AI? Und warum verändert sie alles?

Agentic AI beschreibt KI-Systeme, die Aufgaben nicht nur passiv ausführen, sondern aktiv Ziele verfolgen, sich an verändernde Umgebungen anpassen und autonome Entscheidungen treffen. Anders als klassische Automatisierungslösungen oder regelbasierte Bots verfügen Agenten über vier zentrale Fähigkeiten, die ihnen eine neue Qualität des Handelns verleihen, wie sie unter anderem von KI-Pionier Andrew Ng beschrieben wurden:

  1. Reflexion: Agenten können ihre eigenen Ergebnisse bewerten, Schlussfolgerungen ziehen und sich selbst verbessern.

  2. Tool-Nutzung: Sie nutzen externe Werkzeuge wie etwa Websuche, APIs oder Datenbanken zur Lösung ihrer Aufgaben.

  3. Planung: Sie strukturieren komplexe Aufgaben in Zwischenschritte und verfolgen diese zielgerichtet.

  4. Multi-Agent Collaboration: Sie teilen Aufgaben untereinander auf oder lassen mehrere Agenten im Verbund – z. B. durch Diskussion oder Abstimmung – zu besseren Ergebnissen kommen.

Diese agentiellen Fähigkeiten führen zu einer neuen Form von Autonomie, Kontextsensitivität und Prozesskompetenz. Mit tiefgreifenden Auswirkungen auf nahezu alle Unternehmensbereiche.

Im Unternehmenskontext entstehen daraus verschiedenste Anwendungsmöglichkeiten:

  • Intern: zum Beispiel HR-Agenten, die proaktiv passende Weiterbildungsangebote auf Basis von Skill-Gaps empfehlen, Anmeldungen organisieren und Feedbackzyklen einholen.

  • Von und nach außen: zum Beispiel KI-Agenten, die im Auftrag eines Kunden die besten Einkaufsmöglichkeiten scannen, personalisierte Angebote vergleichen, Bewertungen prüfen, direkt einen Warenkorb zusammenstellen und eine Bestelltransaktion auslösen.

  • Hybride Szenarien: zum Beispiel Agent, die mit internen Systemen (ERP, CRM) interagieren, um Vertriebsteams bei Angebotsvorbereitungen zu unterstützen, während sie gleichzeitig auf externe Marktinformationen zugreifen.

Die Frage ist nicht mehr, ob Unternehmen Agentic AI nutzen. Sondern wo, wie und mit welchem Ziel. Denn klar ist: Wer die Technologie richtig einsetzt, schafft radikal neue Effizienzpotenziale, Kundenerlebnisse, Wachstumsmöglichkeiten und Organisationsformen. Doch das hat seinen Preis: Datenstrukturen müssen standardisiert werden. Infrastrukturen durch Schnittstellen neu zugänglich werden. Und Organisationen müssen lernen, mit einer neuen Klasse von „Mitarbeitenden“ umzugehen: den Agents.

 

Das Dilemma der Öffnung: Zwischen Sichtbarkeit und Kontrollverlust

Die Idee, externe Agenten – also KI-Systeme, die im Auftrag von Kund*innen agieren – strukturiert auf das eigene Produktangebot zugreifen zu lassen, stellt für viele Unternehmen einen Paradigmenwechsel dar. Was bislang im Frontend durch grafische Interfaces, redaktionelle Gestaltung oder algorithmische Empfehlung gesteuert wurde, wird zunehmend durch automatisierte Agentenanfragen ergänzt oder ersetzt. Textbasiert, transaktional, schnell.

Wer in dieser neuen Welt von Agenten gefunden, verstanden und bevorzugt werden will, muss seine Daten nicht nur maschinenlesbar, sondern auch strategisch zugänglich machen. Und genau hier beginnt das Dilemma: Je transparenter ein Angebot, desto vergleichbarer wird es. Je kontrollierter es bleibt, desto unsichtbarer droht es zu werden.

 

Bauchschmerzen? Völlig verständlich.

Die Vorstellung, das eigene Produktportfolio explizit für automatisierte, externe Systeme zu öffnen, löst berechtigtes Unbehagen aus. Was passiert mit der Marke, wenn die Customer Journey möglicherweise zunehmend von Dritt-Agents orchestriert wird? Wie lassen sich Differenzierungsmerkmale wie Frische, Nachhaltigkeit oder Beratungskompetenz transportieren, wenn nur strukturierte Datenschnipsel verarbeitet werden? Und vor allem: Wie gelingt es, den Zugang zu Kund*innen zu sichern, wenn dieser durch Agenten vermittelt oder sogar ersetzt wird?

 

Andere Branchen standen vor ähnlichen Fragen

Diese Herausforderung ist nicht ohne historische Parallelen. Versicherungen, Banken, Energieversorger: sie alle haben Öffnungsprozesse durchlaufen, etwa durch die Etablierung von Vergleichsportalen wie Check24, Verivox oder Finanzcheck. Oft war dieser Wandel zunächst unerwünscht, wurde aber durch Regulatorik oder Marktlogik erzwungen.

Zunächst dominierten Schutzreflexe, aus Angst vor Preisdruck, Margenverlust oder Reputationsschäden. Doch dann verlagerten sich die Spielregeln: Anbieter, die gezielt in diese Kanäle investierten, konnten Differenzierung über Services, Zusatzprodukte oder smarte Datenpflege aufrechterhalten. Und teils sogar neue Marktanteile gewinnen.

Der Unterschied zu damals ist, dass es heute kein zentrales Portal mehr gibt. Die Plattform ist überall. Agenten agieren dezentral, on-demand, kontextsensitiv. Wer ihre Logik versteht, gestaltet Sichtbarkeit aktiv. Wer sie ignoriert, verliert an Relevanz.

 

Agentic AI ist daher nicht nur ein IT-Thema, sondern eine strategische Transformationsaufgabe

Agentic AI wird oft als reines Technologie-Thema betrachtet: Welche Orchestrierungslösungen setzen sich durch? Welche Schnittstellen braucht es? Welche Standards werden sich etablieren? Doch diese Sichtweise greift zu kurz. Denn die eigentliche Veränderung liegt nicht in der Technik selbst, sondern in zentralen Business-Stellschrauben und ihren organisationalen Konsequenzen.

Beispiel interne Prozesse: Agenten können Support-Tickets triagieren, Bewerbungen sichten, Bestelloptionen analysieren, Marktdaten zusammenführen. Sie lassen sich in Pilotprojekten testen, ohne direkt in Kundenkontakt oder Plattformöffnungen zu gehen. So entsteht Erfahrungswissen: zur Datenqualität, zur Integration, zur Governance. Und eine fundierte Grundlage für die Entscheidung, wo Agentic AI skaliert werden kann.

Gleichzeitig verändert sich die Organisation selbst. Neue Rollen entstehen (Agent Product Owner, API/Data Architects, Governance Leads, etc.). Kompetenzen verschieben sich. Nicht mehr das Wissen allein zählt, sondern die Fähigkeit, Aufgaben effizient zwischen Mensch und Maschine zu verteilen. Führung wird zur Orchestrierung hybrider Teams. Und: Vertrauen entsteht nicht durch Kontrolle, sondern durch Verständnis. Agentic Literacy – also ein unternehmensweites Verständnis für Funktionsweise und Wirkung von Agenten – wird zum Erfolgsfaktor.

 

Ethik und Haltung bilden das Fundament für eine erfolgreiche Umsetzung

Agenten bringen Effizienz. Aber das reicht nicht. Wer sie einsetzt, sollte auch fragen: Was ist unser Anspruch? Was unsere Haltung? Wird Technologie genutzt, um Menschen zu entlasten, oder um Kontrolle auszuweiten? Gestalten Unternehmen Agentic AI so, dass sie Zusammenarbeit erleichtert, Unterschiedlichkeit sichtbar macht, gezielt unterstützt?

Diese Fragen sind entscheidend. Denn sie beeinflussen, wie Agenten wahrgenommen werden. Als Helfer oder Kontrolleure. Als Entlastung oder Bedrohung. Und sie bestimmen, wie offen Menschen der Technologie gegenüberstehen. Haltung ist kein Soft Skill. Sie ist der Unterschied zwischen blinder Effizienz und sinnvoller Innovation.

 

Was jetzt zu tun ist: Lernen, Gestalten, Probieren

Agentic AI ist da. Die Frage ist nicht, ob sie kommt. Sondern, wann sie dominant wird. Wer wartet, riskiert Fremdsteuerung. Wer früh beginnt, schafft Optionen. Drei Schritte sind entscheidend:

  1. Kompetenzen entwickeln: Leadership und das Management sensibilisieren, neue Rollen schaffen, Engineering-Teams befähigen, technische Grundlagen legen. Ziel: Fähigkeit zur Gestaltung statt nur zur Reaktion.

  2. Strategien entwerfen: Öffnungsszenarien evaluieren, differenzierende Datenmodelle definieren, eigene Agenten planen. Ziel: Differenzierung und Sichtbarkeit sichern.

  3. Pilotprojekte definieren: Intern starten, etwa mit Agenten für Support, Training, Datenanalyse oder Simulationen in API-Sandboxes. Ziel: Erfahrungswissen aufbauen.

 

Fazit: Vom Reagieren ins Gestalten kommen

Agentic AI ist keine technologische Mode, sondern ein struktureller Wandel. Wer ihn ernst nimmt, stellt nicht nur Systeme um, sondern strategisches Denken. Die zentrale Frage lautet: Wie viel Kontrolle wollen wir behalten, wenn die Rahmenbedingungen sich verändern?

Transparenz wird kommen. Agentenzugriffe werden sich etablieren. Die Frage ist, ob Unternehmen selbst die Bedingungen dafür schaffen oder später fremdbestimmt darauf reagieren müssen.

Der Weg in die Agentic-AI-Welt ist kein IT-Projekt. Es ist ein strategischer Prozess mit Implikationen für Produkt, Organisation, Führung und Kultur. Wer ihn bewusst gestaltet, kann mehr tun als mithalten. Er kann vorausgehen. Und den Agenten etwas entgegensetzen, was sie nicht haben: Haltung, Urteilskraft, Verantwortung.

 

Agentic AI: Mit Lumen von der Theorie zur Umsetzung

Wer Agentic AI bloß als Zukunftsthema behandelt, verpasst die Chance, jetzt die Weichen richtig zu stellen. Die technologischen Grundlagen entstehen gerade, aber es sind strategische Entscheidungen, die über Differenzierung, Sichtbarkeit und Gestaltungsfreiheit in der Agentenökonomie entscheiden werden.

Bei Lumen Partners unterstützen wir Unternehmen dabei, Klarheit zu gewinnen:

  • Wo Agentic AI bereits heute sinnvoll ansetzen kann, intern wie extern.

  • Welche Skills, Rollen und Strukturen dafür nötig sind.

  • Und wie erste Piloten dazu beitragen, Wissen, Sicherheit und eigene Optionen aufzubauen.

Die Frage ist nicht, ob uns KI-Agenten begegnen werden. Sondern ob wir vorbereitet sind, wenn sie uns begegnen.


 
 
 

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André Cramer
Responsible AI | Strategische Kommunikation | Tech & Innovation Strategie | Digitale Verantwortung

  • Mehr als 25 Jahre Erfahrung im Tech-, Telco & Internet-Sektor: von Start-ups bis Großkonzernen, von Europa bis ins Silicon Valley, von Product Building bis C-Level-Beratung

  • Head of Strategic Communications für Board Member Technology & Innovation der Deutschen Telekom (2019–2024)

  • Gründer & Lead der konzernweiten Human-Centered Technology Community bei der Telekom

  • Innovation Foresight, Strategy & Execution Consulting u.a. bei Deutsche Telekom, Yahoo! Inc., Detecon, futurest

  • Host des #DRANBLEIBEN Newsletters & Podcasts und Co-Host des Code & Konsequenz Podcasts

  • Speaker, Coach und Trainer zu Themen wie AI, Tech Ethics, Human-centered Technology, Leadership & Culture

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The Fabric of Agency: Philosophical Insights for Agentic AI